Zwillingsforschung - oder:
Was ist angeboren, was ist anerzogen?
Amerikanische Wissenschaftler untersuchten Ende der 80er
Jahre mehr als 100 Zwillingspaare, die getrennt voneinander aufgewachsen waren -
mit verblüffenden Resultaten.
„Hier sehen Sie, wohin solche Wissenschaft führt“, empörte
sich Professor Barry Mehler und schwenkte ein buntbedrucktes Flugblatt, „so
etwas wird nur von den Neonazis ausgenutzt.“ Mehler ist Professor für
Kulturgeschichte in Big Rapids (US-Staat Michigan) und spürt allen Formen des
wissenschaftlich verbrämten Rassismus nach.
Was Mehler auf einem wissenschaftlichen Kongress in New
Orleans jüngst so in Rage brachte, waren die - von einer rechtsradikalen
Vereinigung zitierten - Ergebnisse amerikanischer Zwillingsforscher. Denn die
haben in den letzten Jahren überzeugende Belege für einige 'Thesen gefunden, die
so ziemlich allem widersprechen, was viele fortschrittlich gesinnte Zeitgenossen
bislang für ausgemacht hielten.
So sind nach Ansicht der Zwillingsforscher unter anderem
die Neigungen zu Religiosität, politischem Radikalismus oder
auch zu Toleranz gegenüber sexuellen Minderheiten in hohem Maße angeboren;
auch berufliche Fähigkeiten und Vorlieben weit stärker als
bislang angenommen durch Erbanlagen als durch familiäre Umwelt beeinflusst;
die Möglichkeiten, Intelligenz und Lernfähigkeit durch die
Erziehung zu beeinflussen, gering.
Die Wissenschaftler, die solche Behauptungen aufstellen, etwa
der Humangenetiker Lindon J. Eaves vom Medical College of Virginia in Richmond
oder der legendäre „Zwillingsprofessor“ Thomas J. Bouchard von der University of
Minnesota in Minneapolis, sind alles andere als Sektierer, die den Menschen
ausschließlich auf seine Biologie oder gar seine Gene reduzieren wollen. Aber
die Resultate ihrer Studien lehren sie, manch liebgewordene These fallen zu
lassen. „Als ich vor mehr als zehn Jahren mit meinen Untersuchungen begann“,
sagt Bouchard, „glaubte ich auch, entscheidend seien die Umwelteinflüsse und
nicht die Gene.“ Schon der Naturforscher Sir Francis Galton (1822 - 1911), ein
Cousin Charles Darwins, hatte die sorgfältige Beobachtung von Zwillingen
empfohlen, um „zwischen dem Einfluss natürlicher Anlagen und dem der Umwelt zu
unterscheiden“. Doch die meisten der in der Folgezeit unternommenen Studien
umfassten nur einige wenige Zwillingspaare, schlüssige Aussagen erlaubten sie
nicht.
Das änderte sich erst, als Thomas Bouchard 1979 mit ein paar
Kollegen begann, systematisch nach Zwillingen - eineiigen und zur Kontrolle auch
zweieiigen - zu fahnden, die getrennt aufgewachsen waren. Besonders im oder
unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg war es häufig vorgekommen, dass Zwillinge
bald nach ihrer Geburt von verschiedenen Zieheltern adoptiert wurden, und erst
nach Jahrzehnten von ihrem Ko-Zwilling erfuhren.
Die psychologische Fakultät in Minneapolis wurde nun häufig
zum Schauplatz rührender Szenen. Menschen, die einander zuletzt als Säuglinge
gesehen hatten, erlebten sich wechselseitig als zweites Ich. Bald gingen
unglaublich anmutende, aber wahre Geschichten um die Welt : Getrennt
aufgewachsene Zwillinge hatten fast stets dieselben Berufe gewählt, hatten die
nämlichen Ansichten und Marotten.
Alle Zwillingspaare werden von
den Forschem in Minneapolis einer Serie von psychologischen Standard-Tests
unterworfen, in deren Verlauf die Probanden rund 15 000 Fragen beantworten, mehr
als in irgendeiner anderen Zwillingsstudie. Die Resultate frappierten auch die
skeptischsten unter den Wissenschaftlern.
Auf ihr bislang berühmtestes
Paar stießen Bouchard und seine Mitarbeiter schon am Anfang ihrer
Forschungsreihe: die „Jim Twins“, Jim Lewis und Jim Springer. Als Babys
getrennt, hatten sie einander erst nach 39 Jahren wiedergesehen. Inzwischen
hatte jeder von ihnen zweimal geheiratet: jeder das erste Mal eine Linda, das
zweite Mal eine Betty. Seinen ersten Sohn hieß der eine Alan, der andere nannte
seinen Allen, und beide hatten Hunde besessen, die auf den Namen Toy hörten.
Jeder der Jims ließ sich im
Garten eine Bank rund um einen Baum zimmern, beide betätigten sich als
Heimwerker, waren Kettenraucher und Nägelkauer. Beide hatten als
Tankstellenhelfer gearbeitet und später als Hilfssheriffs gedient. Im Sommer
hatten sie beide, ohne voneinander zu wissen, am gleichen Strand von Saint
Petersburg in der Sonne geschmort.
Aber auch die Übereinstimmungen
bei anderen Zwillingspaaren waren nicht minder verblüffend: Jack Yufe und Oskar
Stöhr etwa waren 1933 in Trinidad als Zwillinge geboren worden. Noch im ersten
Lebensjahr wurden sie getrennt. Jack blieb bei seinem jüdisch-orthodoxen Vater,
Oskar ging mit seiner katholischen Mutter nach Deutschland.
Nur kurz hatten sie sich noch
einmal gesehen - dann erst wieder im Alter von 46 Jahren zum Test in
Minneapolis: Sie trugen gleichartige blaue Sporthemden mit Schulterklappen,
gleiche Pilotenbrillen, hatten Schnurrbärte gleichen Schnitts, und jeder trug
aus purer Gewohnheit ein paar Gummibänder am Handgelenk. Jack und Oskar lieben
es beide, in Aufzügen laut zu niesen, um die Leute zu erschrecken, ziehen die
Spülung, bevor sie sich auf die Toilette setzen, und beide schlafen des Abends
regelmäßig vor dem Fernseher ein.
Auch die eineiigen Zwillinge
Jerry Levey und Mark Newman staunten nicht schlecht, als sie einander das erste
Mal als Erwachsene begegneten: Beide trugen Feuerwehruniform, exakt die gleiche
Barttracht, die gleichen Brillen und bevorzugten das gleiche Bier (Budweiser),
wobei jeder beim Trinken den kleinen Finger unter den Boden der Bierflasche
schob.
Anfangs bewerteten die
Psychologen ihre Ergebnisse eher vorsichtig. Doch nun ist es mit der
Zurückhaltung wohl vorbei. „Mittlerweile haben wir 105 Paare von getrennt
aufgewachsenen Zwillingen untersucht“, gab Bouchard im Februar auf dem
Jahrestreffen der AAAS (American Association for the Advancement of Science) in
New Orleans bekannt. Nun könne er sagen, dass etwa die Hälfte aller in den Tests
gemessenen Eigenschaften „genetisch bestimmt ist - darunter Lernfähigkeit,
Intelligenz und Religiosität“.
Zur Bewertung der Tests
entwickelten die Forscher eine relativ einfache Skala: Stimmten die Ergebnisse
von zwei Befragten bei einem Test total überein, wurde der „Identitäts-Wert“
eins eingesetzt, die normale Abweichung der Ergebnisse bei zwei beliebigen
Testpersonen ergab den Wert null. Zwillinge liegen dazwischen: Bei eineiigen
Zwillingen, deren Gene identisch sind, kamen die Forscher bei Intelligenz- und
Persönlichkeitstests fast stets auf einen Gesamtwert von 0.5; zweieiige
Zwillinge lagen meist knapp unter 0.25.
Eine Dissertation aus dem
Institut Bouchards kommt zum gleichen Resultat: Bei einer Untersuchung der
beruflichen Interessen zeigte sich bei eineiigen Zwillingen eine Übereinstimmung
von etwa 0.5, zweieiige hingegen kommen nur auf 0.1.
Bestätigt wurden die
Bouchardschen Befunde auch in anderen Studien. Im US-Bundesstaat Virginia wurden
15 000 Zwillingspaare und deren Verwandte befragt, wie oft sie in die Kirche
gingen, ob sie Mitglied politischer Organisationen seien, was sie von
umstrittenen Themen wie Frauenbewegung, Homosexualität, Todesstrafe, Rüstung,
Sozialismus oder Entwicklungshilfe hielten
- insgesamt 28 Fragen. Auch dabei, so berichtete Lindon J. Eaves in New
Orleans, „stellten wir fest, dass eineiige Zwillinge deutlich höhere
Übereinstimmungen aufwiesen als zweieiige“.
Sein Kollege Andrew Heath von
der Washington University School of Medicine in Saint Louis überprüfte alle
Daten aus den Massenerhebungen in Virginia, Kalifornien und Australien, ebenso
wie die aus den gründlicheren Persönlichkeitstests von kleineren
Zwillingsgruppen in Minneapolis. Für die Ergebnisse war es fast gleichgültig, ob
Zwillinge gemeinsam oder getrennt aufgewachsen waren, wichtig für den Grad der
Übereinstimmung war stets nur, ob es sich um ein- oder zweieiige gehandelt
hatte.
Dass manche Erbanlage indes erst nach Umweltreizen wirksam
wird, dafür hatte Bouchard in New Orleans ein verblüffendes Beispiel parat: Er
berichtete von Zwillingsschwestern, die er leicht daran unterscheiden konnte,
dass eine von beiden schielte - nachdem sich die beiden zum ersten Mal gesehen
hatten, schielt auch die andere.
Quelle: DER SPIEGEL 16/1990
Das Update - 12 Jahre danach:
Machtlose Gene
von
Matthias Brendel
Wird der Charakter von der Umwelt geprägt? Oder hängt alles von den Erbanlagen ab? In einer Zwillingsstudie kommen Münchner Forscher zu erstaunlichen Ergebnissen.
Ein natürlicher Zufall hat Korinna Rahls und Inge Frisius als vollkommen gleiche Wesen auf die Welt gebracht. Augenfarbe, Kontur der Nase, Knochenbau und Beschaffenheit der inneren Organe sind bei ihnen identisch. Trotz der gleichen Erbanlagen fällt es jedoch 69 Jahre später schwer, zu glauben, dass die beiden Frauen eineiige Zwillinge sind.
Inges Frisius’ Gesicht ist glatt. Darüber sitzt ein weißblonder Bubikopf. Ihre blauen, klugen Augen betrachten die Welt durch große Brillengläser mit freundlicher und vorsichtiger Neugier.
In Korinnas Antlitz hingegen haben sich tiefe Falten gegraben - Folge vieler Kämpfe, die sie im Laufe ihres Lebens austragen musste. Das hennarot gefärbte Haar fällt wirr. Eine Brille trägt Korinna nicht.
Vor allem aber unterscheiden sich die Zwillingsschwestern in ihren charakterlichen Eigenschaften. Die zweitgeborene Inge lebt heute in ihrer Heimatstadt Celle in einem ruhig gelegenen Einfamilienhaus. Schon als Kind von den Eltern künstlerisch gefördert, wurde die junge Frau Textildesignerin. Nach ihrer Heirat gab sie den Beruf auf, brachte vier Kinder zur Welt und widmet sich seitdem der Malerei. Das Haus hängt voll von ihren Bildern, die sie auch an Freunde und Bekannte verschenkt.
Ihre gemeinsame Kindheit mit ihrer Schwester Korinna hat sie in bester Erinnerung: „Es war einfach schön“, sagt Inge, „man hat sich nie einsam gefühlt und war immer gleich doppelt da.“
Korinna Rahls’ Erinnerungen an die frühe Zwillingszeit fallen etwas anders aus: Sie sind von dem Eindruck geprägt, dass es die Schwester gegenüber Eltern, Freunden und Lehrern stets etwas leichter hatte. Das Leben hatte Korinnas Karten anders gemischt. Da es dem Mädchen nach einer frühen, handschriftlich niedergelegten Einschätzung des Vaters an „vernünftiger Überlegung fehlt“, wollten die Eltern ihre Erstgeborene „aus ihren Träumen“ auf „den realistischen Boden der Tatsachen herunterholen“.
Erzieherische Maßnahmen halfen jedoch wenig: Zwar erlernte Korinna, wie von ihren Eltern gewollt, einen ordentlichen Beruf -doch nur, um anschließend heimlich Schauspielerin zu werden. Zäh hat sie sich jahrelang mit kleineren Engagements durchs Leben geschlagen, wurde später Sängerin und schließlich Dirigentin. Mit ihrem Mann, einem Musiker, lebt Korinna Rahls in einer von Notenblättern überbordenden Altbauwohnung in Karlsruhe.
Auch in ihrer Lebensanschauung liegen die Frauen deutlich auseinander: „Zufälle“ haben für Korinna „keinen Stellenwert“ -während Inge durchaus schicksalsgläubig ist: „Der Zufall ist die Chance für etwas Neues.“
Solche gegenläufigen Einstellungen haben sich auch bei 190 weiteren Zwillingspaaren gezeigt, die von Wissenschaftlern des Max-Planck-Instituts für psychologische Forschung in München im Rahmen einer Langzeitstudie untersucht wurden. „Wir gehen davon aus“, resümiert Psychologe und Projektleiter Ulrich Geppert, „dass die charakterlichen Unterschiede mindestens zu 40 bis 50 Prozent von der Umwelt geprägt werden.“
Die Ergebnisse der Max-Planck-Forscher sind eine Überraschung: Frühere amerikanische Studien über charakterliche Eigenschaften eineiiger Zwillinge haben bei diesen meist große Parallelen ergeben und galten bislang als Beweis für die überwältigende Macht der Gene.
Berühmt wurden die Fälle einiger getrennt aufgewachsener Zwillinge aus der so genannten Minnesota-Zwillingsstudie aus dem Jahr 1979. Jim Lewis und Jim Springer etwa wurden gleich nach der Geburt von unterschiedlichen Familien adoptiert. Im Alter von 39 Jahren begegneten sich die Zwillingsbrüder zum ersten Mal. Beide hatten bis dahin zeitweise sowohl als Tankstellenwärter als auch als Hilfssheriff gearbeitet. Beide hatten zweimal geheiratet. Beider erste Frauen hießen Linda, die zweiten jeweils Betty. Ihre ältesten Söhne trugen den fast gleichen Vornamen. Die Hunde ihrer Kinderzeit hießen Toy.
Nach den neuen Erkenntnissen der Max-Planck-Forscher lässt sich jedoch nicht klar entscheiden, ob das Erbgut oder die Umwelteinflüsse überwiegen: Während sprachliche Fähigkeiten, ein stabiles Gemüt oder die Fähigkeit zur Selbstdisziplin offenbar großteils vererbt werden, hängen andere Charaktereigenschaften eher von dem jeweiligen sozialen Umfeld ab - zu dem besonders auch der jeweils andere Zwilling gehört.
„In vielen Zwillingspaaren“, erläutert Geppert, „ist einer für die Außenbeziehungen und einer für die Innenbeziehung zuständig.“ Folglich entwickelt sich der eine Zwilling zum dominanten Partner, und der andere ordnet sich unter.
Der - zumeist erstgeborene - dominante Zwilling vertritt dann die Interessen beider gegenüber Eltern, Freunden und Lehrern. Der andere Zwilling beschäftigt sich dagegen vornehmlich mit der Pflege und dem Ausbau der Zwillingsbeziehung. Ausgehend von dieser Arbeitsteilung, können sich auch die Charaktere in einem solchen Paar sehr weit auseinander entwickeln.
So kann bei dem einen eine starke Neigung entstehen, sich zu binden; er will von seinen Mitmenschen geliebt werden. Der andere strebt hingegen nach Macht und Einfluss und ist ausgesprochen leistungsorientiert. Viele dieser sozialen Eigenschaften, so fanden die Münchner Psychologen heraus, sind kaum genetisch determiniert. .
Sehr große Ähnlichkeit weisen eineiige Zwillinge hingegen bei Lernvermögen und Intelligenz auf: Bei entsprechenden Tests erzielen sie nahezu gleiche Ergebnisse. Die Übereinstimmung entspricht der einer Einzelperson, die innerhalb von zwei Wochen den gleichen Test zweimal absolviert. Demgegenüber unterscheiden sich zweieiige Zwillinge so deutlich wie normale Geschwister.
Eine weitere Überraschung erlebten die Max-Planck-Forscher indes, als sie bei den Zwillingspaaren untersuchten, wovon das Selbstbewusstsein eines Menschen abhängt: Die „Überzeugung eigener Kompetenz“ (Geppert) ist demnach überwiegend erblich bedingt.
„Man sollte annehmen, dass die Selbsteinschätzung stark davon beeinflusst wird, welche Rückmeldungen man von seinen Mitmenschen erhält“, so Geppert, „das ist aber erstaunlicherweise nicht der Fall.“
Quelle: DER SPIEGEL 8/2002
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