Sich selbst erfüllende Prophezeiungen 
- self-fulfilling prophecies -
im Verkauf
von Burkhard Treude

Frau Wallner ist Verkäuferin in einem Modegeschäft einer Kleinstadt. In ihrer Region gibt es eine Menge Firmenpleiten, und es herrscht hohe Arbeitslosigkeit. Frau Wallner ist überzeugt davon, dass ihre Produkte angesichts der trostlosen Lage sowieso keinen großen Absatz mehr finden: „Die Leute sparen halt zuerst an der Mode. Die Kundinnen kaufen sich höchstens noch einen neuen Lippenstift, aber für komplett neue Outfits haben die doch einfach kein Geld mehr.“ Sie hat resigniert. Jedes Mal, wenn sie eine Kundin beraten hat, findet sie sich in ihrer Meinung bestätigt. „Hab’ ich doch gleich gewusst, dass das nichts wird“, sagt sie.

Interessanterweise hat Frau Wallner kürzlich erfahren, dass eine Kollegin in einer anderen Filiale, die mit denselben Problemen im sozialen Umfeld zu kämpfen hat, dennoch ihre Umsätze gesteigert hat. „Merkwürdig“, denkt Frau Wallner. „Woran kann das liegen?“

Der Mechanismus, mit dem wir es hier zu tun haben, wurde in seiner ganzen Tragweite Mitte der sechziger Jahre des letzten Jahrhunderts entdeckt. Sein Name: die „sich selbst erfüllende Prophezeiung“.

Sich selbst erfüllende Prophezeiungen können wir überall beobachten: Schüler einer Eingangsklasse wurden einem Intelligenz-Test unterzogen. Anschließend wählte man 20 Prozent der Schüler unter dem Gesichtspunkt der reinen Zufälligkeit aus und teilte dem Lehrerkollegium mit, es handle sich bei diesen Schülern um besonders vielversprechende Talente.

Nach einem Jahr wurden alle Schüler noch einmal getestet, und siehe da: Jene 20 Prozent zufällig ausgewählter Schüler hatten den Erwartungen der Lehrer - die ja annahmen, in ihnen besonders intelligente Schüler vor sich sitzen zu haben - voll entsprochen. Ihre Schulleistungen lagen deutlich über dem Durchschnitt, und ihr Intelligenz-Quotient hatte sich in stärkerem Maße verbessert als der ihrer Mitschüler. Die sich selbst erfüllende Prophezeiung war hier am Werk gewesen.

Wie stark positive Vorurteile eines Lehrers oder Vorgesetzten die Entwicklung eines Lernprozesses bei den ihnen Anvertrauten beschleunigen, zeigt ein Beispiel aus dem Schwimmbad. Eine Gruppe von Kindern, die - wiederum zufällig - aus einer großen Zahl von Teilnehmern an einem Schwimmkurs ausgewählt worden waren, wurden zu Beginn des Schwimmunterrichts dem Bademeister als ausgesprochene Schwimmtalente vorgestellt. Und tatsächlich lernten diese Kinder in wesentlich kürzerer Zeit Schwimmen als Kinder aus Vergleichsgruppen. Der Schwimmlehrer „wusste“, dass diese Kinder talentiert waren, und sie waren talentiert!

Aber nicht nur bei Menschen ist der Effekt der „sich selbst erfüllenden Prophezeiung wirksam. Einer Gruppe von Biologie-Studenten wurde erzählt, es seien Versuche unternommen worden, eine intelligentere Art von Ratten zu züchten. Die Stundenten-Gruppe wurde aufgeteilt: Einer Hälfte gab man eine Anzahl von Ratten, die angeblich aus dem Stamm der intelligenteren kamen. Die Vergleichsgruppe erhielt „normale“ Ratten.

Die Studenten sollten feststellen, wie schnell die Ratten lernten, ein Labyrinth zu durchlaufen. Das schier Unglaubliche trat ein: Die als intelligenter vorgestellten Ratten durchliefen das Labyrinth wesentlich schneller als die Ratten der Vergleichsgruppe. Wo mögen die Ursachen für solch überraschende Beobachtungen liegen?

Es gibt mehrere mögliche Erklärungen, die entweder gemeinsam oder auch jede für sich allein ausschlaggebend für den Effekt der „sich selbst erfüllenden Prophezeiung“ sein können.

Menschen, die eine positive Erwartung in Bezug auf ihre Schüler, Kinder, Kunden (oder wen auch immer) vermittelt bekommen haben, ...

  1. ... erzeugen gegenüber diesen Menschen ein wärmeres sozial-emotionales Klima (sie verteilen mehr „Streicheleinheiten“, geben mehr Zuwendung, hören besser zu, beschäftigen sich intensiver mit ihrem Gegenüber, geben mehr Lob, interessieren sich mehr für ihre Gesprächspartner)

  2. ... geben diesen Menschen mehr Informationen und stellen höhere Anforderungen und Erwartungen an sie; (sie trauen anderen mehr zu)

Im Falle des Beispiels aus dem Rattenlabor heißt das: Die als intelligenter vorgestellten Ratten wurden behutsamer angefasst und häufiger gestreichelt, während Misserfolge der „dummen“ Ratten von Beschimpfungen und roher Behandlung begleitet waren.

Wenn selbst im Vergleich zum Menschen „unsensible“ Ratten so stark auf Erwartungen reagieren, die an sie gestellt werden, wie sehr wird sich dieses Phänomen dann erst bei unseren Kunden bemerkbar machen! Unter dem Einfluss der allmächtigen „Sich selbst erfüllenden Prophezeiung“ werden unsere Kunden sich oft genauso verhalten, wie wir es von ihnen erwarten. Das Problem bei der „Sich selbst erfüllenden Prophezeiung“ ist, dass es sich dabei oft um negative Erwartungen handelt. Selbstverständlich wirkt der Effekt aber auch bei positiven Erwartungen.

Die Gesetze der sich selbst erfüllenden Prophezeiungen im Verkauf:

     Wenn wir ein positives Vorurteil gegenüber Kunden haben, ...
    
... schenken wir ihnen mehr Aufmerksamkeit (Blickkontakt, Lächeln, Platz anbieten, 
         freundliche Stimmlage, Fragen, Zuhören)
     ... geben wir ihnen mehr Informationen
    
...
machen wir ihnen höherwertige Angebote
     ... bieten wir ihnen mehr Service-Leistungen an
     ... verhalten wir uns offensiver in Bezug auf den Abschluss.

Kennen Sie den Fall der Schuhverkäuferin, die dem Kunden im Ton der Entrüstung sagt: „Die kosten aber 199 Euro!“ Oder die Situation, in der die Parfümerie-Verkäuferin eine schmuddelig gekleidete Kundin vor sich hat und ihr „nur“ Nivea anbietet? Erst am Ende des Verkaufsgesprächs stellt sich heraus, dass die Kundin auf dem Wochenmarkt arbeitet und sich mal „richtig was Gutes“ gönnen wollte. 

Bitte überlegen Sie:

Welche Situationen haben Sie in Verkaufsgesprächen selbst schon beobachtet, in denen Verkäufer durch eine negative Erwartung die „sich selbst erfüllende Prophezeiung“ in Gang gesetzt haben?

Und nun stellen Sie sich bitte den Unterschied vor, wenn eine Verkäuferin durch eine positive Erwartung oder durch eine negative Erwartung den Effekt der sich selbst erfüllenden Prophezeiung erzeugt. Stellen Sie sich vor, welche Wirkung es haben kann, wenn Sie davon überzeugt sind, dass Ihr Kunde nur ein „Sehmann“ ist oder „billig“ kaufen will oder dass sich Ihr Kunde für hochwertige, anspruchsvolle Ware interessiert.

Beispiel 1: (negative Erwartung)
Heute ist kurz vor Monatsende. Da kommen doch nur die „Sehleute“, die sowieso kein Geld in der Tasche haben.
Verkäuferin beschäftigt sich lieber mit ihren „Nebentätigkeiten“ und nimmt kaum Blickkontakt zum Kunden auf.
Kunde findet niemanden, der auf ihn zugeht. Er denkt: „Typisch - mal wieder kein Mensch zu sehen. Die haben’s wohl nicht nötig.“
(Kunde verstärkt so seine eigene „sich selbst erfüllende Prophezeiung“)

Beispiel 2: (positive Erwartung)
Heute ist ein schöner Tag. Da werden die Kunden bestimmt „gut drauf sein“.  Mal sehen, was heute passiert.  Mein Motto heißt: „Neues Spiel - neues Glück“.
Verkäuferin strahlt den Kunden an.
Kunde strahlt zurück - er ist wirklich „gut drauf“.

Beispiel 3: (negative Erwartung)
Ich bin doch nur eine kleine Verkäuferin.
Verkäuferin signalisiert dem Kunden durch ihre Körpersprache (hängende Schultern, gebeugte Körperhaltung) und durch ihre Wortwahl („weiß ich nicht“, „tut mir leid, führen wir nicht“,
„da muss ich mal nachfragen“ ...), dass sie sich klein fühlt.
Kunde erlebt das unbewusst als Aufforderung, der Verkäuferin gegenüber „die Sau rauszulassen“. Kunde ist arrogant, überheblich, aggressiv.

Beispiel 4: (positive Erwartung)
Dieses Produkt findet bestimmt jeder Kunde toll, auch wenn er es vielleicht nicht für sich selbst kaufen möchte oder kann.
Verkäuferin stellt das Produkt mit Begeisterung vor - einfach mal „als Alternative“.

Beispiel 5: (negative Erwartung)
Diese "TopScene"-Klamotten: alles Plastik. Das will doch kein Mensch tragen. Die Leute wollen Markenware - und nicht so eine Billigmarke, die sowieso kein Mensch kennt.
Was ist wohl der Effekt?

Beispiel 6: (negative Erwartung)
Alles, was sich früher gut verkaufte, haben sie uns rausgeschmissen. Kein Wunder, dass unsere Umsätze stagnieren, wenn wir nicht mehr die richtige Ware führen.
Was ist wohl der Effekt?

Beispiel 7: (positive Erwartung)
Wir führen in unserem Geschäft zwar nicht alle Produkte, aber wir haben eine Auswahl, die den Kunden bestimmt zufrieden stellt.
Was ist wohl der Effekt?

©  B. Treude 2002

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